Gelassen stieg die Nacht ans Land

von Christine Lenz

Rituale helfen uns, den Alltag zu strukturieren, aber Rituale sind für mich auch wie Anker in einer ganz unruhigen See. Rituale geben Halt. Rituale sind, um eine Verbindung zwischen gestern und morgen oder dem Heute zu finden, wahnsinnig wichtig.

Rituale

Wer sind wir?

Im Moment kennen ja viele Amanda Gorman, die ihr Gedicht The Hill We Climb vorgetragen hat bei der Inthronisierung des Präsidenten Biden. Sie sagt zum Beispiel in einem ihrer neueren Gedichtbände, ich habe mir Weihnachten wieder Gedichte gekauft, dass das, was wir aus der dunklen Zeit machen, uns zeigt, wer wir sind. Also das heißt, die Tradition sollte dafür genutzt werden, sie im heute greifbar zu machen. Who are we, if not what we make of the dark? Was wir aus der dunklen Zeit machen, zeigt uns, wer wir sind.

Rituale, Dunkelheit und Schlaf

Wenn wir das jetzt auf das Thema Rituale beziehen, dann ist es einfach so, dass die Dunkelheit ganz vielen Menschen Angst macht. Wir wissen eigentlich nicht, ob wir am nächsten Morgen wieder erwachen. Das sehen wir auch an ganz vielen Wiegenliedern, in der Tradition des Abendgebetes oder daran, dass meine Oma schon gesagt hat, bitte vor dem Schlafen und bevor jemand das Haus verlässt, sich noch mal für alles entschuldigen – was wir zum Beispiel im Gute-Nacht-Gebet auch tun. Wir sagen Danke für den Tag, wir blicken zurück, gehen aber auch in eine Vorausschau auf den nächsten Tag, auf das, worauf wir uns freuen.

Rituale sind feste Institutionen in dieser wogenden See, die um uns herum brandet. Das Leben ist im Moment nicht wirklich einfach, aber wann war das Leben schon jemals einfach? War das Leben für die Menschen im ersten oder zweiten Weltkrieg einfach, war es einfach während Flucht und Vertreibung? Nein, es war noch nie wirklich einfach, das Leben. Und deswegen gibt es Rituale. Rituale gibt es in den Kirchen, Rituale gibt es in unseren Traditionen, wie wir Weihnachten feiern, und Rituale sind es auch, die Sportler immer wieder die gleichen Dinge performen lassen, bevor sie sagen, ok, ich gehe jetzt auf diese Olympiastrecke.

Rituale: Betthupferl und Gute-Nacht-Geschichten

Und Rituale sind auch das, was uns helfen kann, besser und ruhiger einzuschlafen. Mit der Gewissheit, am nächsten Tag werden wir wieder geweckt. Kleine Rituale, wie immer erst mal unters Bett schauen als Kind – da könnte ja jemand noch unter dem Bett wohnen – oder noch mal in den Schrank schauen, können abgelöst werden, wenn wir älter sind, von dem Ritual, eine Wärmflasche ins Bett zu legen. Oder sich abends hinzusetzen und ein Tagebuch zu führen, um aufzuschreiben, was war, was kann gehen und was kann kommen. Was war heute schön? Positive Erinnerungen können verstärkt werden, indem wir jeden Tagebucheintrag mit etwas aufhören, was an diesem letzten Tag, an diesem Heute wunderbar war. Rituale gibt es seit Urzeiten. Und Rituale sind es auch, die wirklich Bestand haben. Das Ritual, dass wir zum Beispiel sagen, ok, wenn ich jetzt ins Bett gehe, dann putze ich mir noch mal die Zähne. Ist Zähneputzen jetzt ein Ritual? Ja, das ist es eigentlich, denn es ist etwas, was wir immer wieder wiederholen. Jetzt kann ich es aber noch etwas ausweiten, indem ich sage, ok, ich mache das einfach ganz bewusst, jetzt erst die vorderen, dann die hinteren Zähne und dann schneide ich noch ein bisschen Grimassen und ich lächle mir vielleicht im Spiegel zu, bevor ich ins Bett gehe. Rituale können auch ein Betthupferl sein, etwas Süßes vor dem Zähneputzen. Kennen Sie das noch? Betthupferl gab es früher, als wir Kinder waren. Vielleicht gibt es sie bei Ihnen jetzt wieder. Gute-Nacht-Geschichten! Wer sagt eigentlich, dass nur Kinder Gute-Nacht-Geschichten lieben? Erzählen Sie doch Ihrem Mann, Ihrer Frau, Ihrer Freundin, Ihrem Freund eine Gute-Nacht-Geschichte. Und warum nicht auch der besten Freundin? Gute-Nacht-Geschichten kann man auch vorher aufnehmen.

Von Mörike bis Langeweile

Ich finde ja im Moment auch Gedichte wieder ganz wunderbar. Ich liebe natürlich alle Texte von Mörike, das habe ich mir schon vor vielen Jahren von meinem Schwiegervater zu Weihnachten gewünscht und nicht nur wegen dem Gelassen-stieg-die-Nacht-ans-Land-Gedicht. Nein, ich mag diesen Rhythmus der Sprache und dass meine Gedanken zwischen den Zeilen bei einem Gedicht Zeit haben nachzukommen, nachzuspüren, nachzufühlen. Dieses Nachspüren, Nachfühlen ist etwas, was mir unheimlich guttut, weil es mir Zeit gibt. Dazwischen ist es auch langweilig. Langeweile ist auch ein ganz wunderbares Ritual. Einfach nur dastehen, neben sich stehen.

Der Tod und der Schlaf

Haben Sie sich eigentlich schon einmal Gedanken gemacht über den Zusammenhang zwischen im Tod und im Schlaf? Bevor wir den Schlaf analysieren konnten durch das EEG, war er immer ein großes Rätsel und das eigentlich bis ins späte 19. Jahrhundert. Das heißt, die Schlafforschung ist noch gar nicht so lange anerkannt und eine sehr junge Disziplin der Medizin. Der Schlaf und der Tod wurden immer miteinander verglichen, weil wir auch im Schlaf regungslos, fast totengleich daliegen. Und früher wurden auch tatsächlich die Toten, zumindest in Bayern, auf Brettern liegend durch das Dorf getragen, auf den sogenannten Totenbrettern. Nur die Toten liegen flach. Wenn Sie alte Bilder anschauen von alten Meistern, dann schlafen die Menschen darauf halb aufgerichtet. Sei es bei Spitzweg, der arme Poet oder seien es unsere Könige, die im Bett Audienz gehalten haben. Welche Rituale zum Thema Schlaf gehören und welche zum Thema Tod, ja, sie ähneln sich. Und sie sind im Wandel begriffen.

Rituale zum Begreifen

Der Tod, der totengleiche Mensch oder der tote Mensch in seiner Haltung wie im Schlaf – es sieht so friedlich aus. „Er ist friedlich eingeschlafen.“ Das ist mehr als nur ein Satz. Die Toten zu waschen und durch das Dorf zu tragen, ist ein wichtiges Ritual. Vielleicht brauchen wir auch wieder gläserne Wägen? Vielleicht brauchen wir auch wieder die Dorfgemeinschaft, die den Leichnam herrichtet? Nicht ein anonymes Bestattungsinstitut, um zu begreifen, dass der totengleiche Schlaf nicht nur ein Wort ist, sondern der Schlaf der Ewigkeit auch etwas ganz Schönes sein kann.

Und hier helfen wiederum Rituale. Es hatte so seinen Sinn, weshalb Witwen zehn Jahre schwarz trugen. Ich muss nicht immer erklären, warum ich jetzt so traurig bin, weil jeder weiß und sieht an der schwarzen Farbe, in anderen Ländern ist es übrigens weiß, dass mich etwas verletzt hat. Warum nach einem Jahr noch einmal an den Toten erinnern? Als Ritual. Warum die Lesung in der Kirche in einem festen Intervall? Warum dieses „was geben wir den Toten mit“ als Ritual? Geben wir ihm die Kette mit? Was ziehen wir ihm an? Manche schlafen übrigens nackt. Würden wir unsere Toten nackt beerdigen? Oder in welchem Gewand? All das sind Rituale, über die man sich vielleicht gar keine Gedanken gemacht hat.

Einschlaf- und Aufwachrituale

Als Schlafcoach werde ich oft gefragt zu Einschlaf- und Aufwachritualen. Aber es ist viel, viel mehr als das. Rituale bestimmen eigentlich unser Leben von Anfang bis Ende. Es gibt zum Beispiel Rituale zur Geburt. In der Klinik ist mir einmal begegnet, dass die Nachgeburt, die Plazenta beerdigt wird. Oder was mit der Nabelschnur passiert. Und es gibt Rituale zum Sterben. Doch der Schlaf kommt jede Nacht, alle vierundzwanzig Stunden müssen wir schlafen, mit festen Ritualen und Zeiten belegt. Wir können aber diese Rituale gestalten und ich denke auch das sollten wir. Finden Sie Ihre Rituale. Allerdings mit dem, was Amanda Gorman gesagt hat, mit dieser Verbindung in die Tradition. Nutzen wir die Tradition um unser Heute begreifbar, erlebbar und vielleicht auch ein bisschen besser lebbar zu machen. Das Leben ist anstrengend, aber wir können von den Menschen, die vor uns gelebt haben und die auch kein einfaches Leben hatten, immer noch lernen. Was hat Halt gegeben, was hat Struktur gegeben? Welche Rituale sind heilend? Welche Rituale stützen uns? Welche Rituale sind der Anker im Sturm des Lebens?

Eigene Rituale

Who are we, if not what we make of the dark? Die Zeit ist nicht nur dunkel. Die Zeit kann auch ganz hell sein durch Rituale, durch Ihre eigenen Rituale. Finden Sie Ihre Rituale und denken Sie daran, der Schlaf ist ein vorübergehender Zustand, er kommt immer wieder. Und bereiten Sie sich vielleicht auch auf den Schlaf vor, der Ewigkeiten dauert. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen schöne Rituale!

Christine Lenz

viel zitierte Schlafexpertin, bekannt aus den Medien. Als erfolgreiche Rednerin bewegt Christine Lenz die Zuhörer dazu, neue Positionen einzunehmen, alte zu überdenken und dem Humor mehr Raum im Leben zu geben. In Vorträgen, Coachings, Workshops und Einzelberatungen ist dies ihr Markenzeichen.

Auch hier freuen wir uns über eigene Erfahrungen als Kommentar oder auch als Email.

2 Gedanken zu „Gelassen stieg die Nacht ans Land“

  1. Danke für diesen Beitrag, der mich nachdenklich gemacht hat welche Rituale ich persöhnlich eigentlich habe. Damit meine ich jetzt nicht so alltägliche Dinge wie das Zähne putzen jeden morgen, auch ein Ritual,….sondern Rituale die mir wichtig sind , wie eine gewisse Zeit der absoluten Stiile.,zum Nachdenken und in sich gehen.

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  2. Das ist interessant, liebe Silli,
    denn vermutlich spielen ja auch die Rituale, die sich langsam in unser Leben einschleichen eine wichtige Rolle für uns und geben uns eine Struktur. Manche Rituale entwickeln sich ja auch aus Pflichten und werden dann auch unverzichtbar, oder? Sind das dann auch Rituale?
    Liebe Grüße
    Andrea

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