Rituale

Rituale stärken die Strukturen unserer Lebensgestaltung und sind damit in vielen Bereichen eine tragende Säule unseres Lebens, unserer Kultur, unserer Gesellschaft. Allerdings gibt es in unserer Gesellschaft Bereiche, in denen es an Ritualen mangelt. Beispielsweise im Kontext des Übergangs in die Lebensphase zwischen Familienarbeit und Ruhestand. In dieser Lebensphase sind insbesondere Menschen, die bisher Verantwortung für die Kindererziehung beziehungsweise die Pflege eines Angehörigen übernahmen oder deren Erwerbsarbeitsleben sich verändert, häufig auf der Suche nach neuen Lebensmodellen.

Rituale fürs Leben
Rituale stärken uns

In seinem erhellenden Beitrag Wozu brauchen wir Rituale?1 stellt Markus Brauer zehn Thesen auf, die zur Erklärung des Themenfeldes auf gesellschaftlicher und individueller Ebene herangezogen werden können. Interessanterweise zählt er in seiner neunten These „Rituale markieren Übergänge“ lediglich die Übergangsrituale Taufe, Kommunion, Konfirmation und Jugendweihe der jüngeren Lebensjahre sowie die Hochzeit auf. Grundsätzlich entspricht der Erklärungsansatz aber dem soziologischen Anspruch2, dass es sich bei einem Ritual um sozial geregelte und kollektiv ausgeführte Handlungsabläufe handelt.

Widerspruch

Dieser Interpretation widerspricht das Projekt weite-felder.de insbesondere in den folgenden Punkten:

  1. Angesichts der zunehmenden Verwendung des Begriffs Ritual in den letzten Jahren, mit der auch eine definitorische Verwässerung einherging, entscheide ich mich, der zunehmend ungenauen Verwendung zu folgen, in ihr ein Potenzial zu sehen und dieses zu nutzen.
  2. Rituale werden heute bewusst gestaltet. Dies geschieht nicht nur in Lebensphasen des Übergangs. Es widerspricht zudem grundsätzlich dem Anspruch auf soziale Geregeltheit. Aber es kann in diesen Phasen eine besondere Chance sein. Zum einen für die Vergesellschaftung noch nicht allgemein etablierter Rituale, also auf gesellschaftlicher Ebene. Zum anderen für das Individuum, das sich entscheidet, neue Wege zu gehen, und in diesem Kontext ein Zeichen setzen will, dass allgemein wahrnehmbar ist.
  3. In unserer teilweise stark individualisierten Gesellschaft sind auch individuelle Rituale, für die es keinen gesellschaftlichen Konsens gibt, ein strukturierendes Element des Lebens und können daher der oder dem Einzelnen durchaus Sicherheit vermitteln.
  4. Möglicherweise erfordern gerade die kollektiven und individuellen pandemischen Erfahrungen, dass wir die direkte Verbundenheit der Menschen über das Instrument des Rituals künftig nicht mehr über das gemeinschaftliche Erleben begreifen. An die Stelle des Kollektiverlebnisses eines Rituals könnte auch die vermittelte, die mediale Erfahrung von Ritualen treten.

Wechsel der Lebensphasen

Diese Gedanken greife ich auf, indem ich beispielhaft eine rituelle Wanderung entlang der Elbe beginne, über die ich auf dieser Website berichten werde. Die Wanderung – ein selbst entwickeltes Ritual – soll zur Blaupause eines Erfahrungsberichts werden, der meine persönliche Auseinandersetzung mit dem Wechsel meiner individuellen Lebensphasen widerspiegelt. In meinem Fall war der Tod meines Mannes im Jahr 2019 ein einschneidendes Ereignis, nach dem ich nun meinen Alltag aktiv neu strukturieren möchte. Was auch angesichts der Pandemie eine besondere Herausforderung ist. Aus diesem Grund werde ich auch allein wandern, um mich voll auf mein Vorhaben, auf meine Entwicklung und auf das Berichten über beides konzentrieren zu können.

Meine Rituale, mein Weg

Für diese Flusswanderung habe ich mich entschieden, weil die Elbe als einer der größten europäischen Ströme viele deutsche Landschaften und damit eine große kulturelle Vielfalt miteinander verbindet. Zudem wuchs ich in Hamburg auf, wo ich vor Jahrzehnten die in unserer Kultur allgemein akzeptierten Rituale wie Taufe, Konfirmation, Hochzeit erlebte. Daran möchte ich jetzt mit meinem eigenen Ritual anknüpfen, aber zugleich auch aufzeigen, was für eine Chance die selbst bestimmte Definition eines Rituals bieten kann.

Und deine Rituale?

Das Projekt weite-felder.de verbindet sich mit der Einladung an dich und an jeden anderen Menschen, eigene Erfahrungen mit Ritualen zu schildern. Mach es wie ich, interpretiere den Begriff Ritual ganz in deinem Sinne und berichte von deinen Erfahrungen. Wir sind grundsätzlich bereit, Beiträge anderer Menschen kostenfrei zu veröffentlichen. Sprich uns aber bitte an, bevor du startest, damit wir am gleichen Strang ziehen. Wir freuen uns auf deine Nachricht!


1 https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.zehn-thesen-wozu-brauchen-wir-rituale.37272b21-fc98-40af-836e-dff8cea27f9e.html – letzter Aufruf 01.11.2021
2 Lexikon zur Soziologie. Hrsg. Werner Fuchs-Heinritz, Rüdiger Lautmann, Otthein Rammstedt, Hanns Wienold, 3., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. 1994. Opladen.

4 Gedanken zu „Rituale“

  1. Was genau ist eigentlich ein Ritual? Einige gute Definitionen haben wir hier dazu gelesen. Es gibt individuelle und kollektive Rituale, einmalige und wiederkehrende. Was unterscheidet ein wiederkehrendes Ritual von einer Gewohnheit? Wie Rituale tragen ja auch Gewohnheiten dazu bei, unserer Zeit/ unserem Leben Struktur zu geben.
    Ich denke, dass Rituale sogar oft etwas mit Übergängen zu tun haben, in dem Sinn, dass ein neuer Lebensabschnitt eingeleitet wird. Das kann der Tag sein oder eine neue Lebensphase. In dem Sinn würde das Ritual sich von der Gewohnheit dadurch unterscheiden, dass es über den Augenblick hinausweist. Und Neuanfänge haben ja immer etwas Magisches!
    Mein Morgenritual besteht darin, dass ich ein großes Glas Wasser trinke und die Blätter von meinen Tageskalendern abreiße. Da ich einen Kalenderspleen habe, habe ich fast immer zwei davon, einer ist mein Mondkalender, der andere in diesem Jahr der Motivationskalender von einem von mir geschätzten Coach. Damit kann der neue Tag beginnen.
    Zusätzlich brauche ich auch immer einen Planer. Einen aus Papier, der dick ist und viel Platz bietet. Mit der Zeit hat er sich zu einer Art Logbuch entwickelt. Da kommen Kommentare rein zu Eindrücken, Erlebnissen und den nächsten Vorhaben, Telefonnummern und Ideen, garniert mit Stickern und schnellen kleinen Zeichnungen. Das gibt mir Gelegenheit, nicht nur den nächsten Tag zu planen, sondern auch den vergangenen Revue passieren zu lassen. Ein Abendritual, das ich liebe.

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  2. Vielen Dank, liebe Regina,
    dass du uns an deinen Gedanken teilhaben lässt. Ich finde besonders das Kriterium, dass ein Ritual über den Augenblick hinausweist, sehr spannend. Darüber werde ich weiter nachdenken. Und ja, Neuanfänge sind magisch!
    Ganz liebe Grüße
    Andrea

    Antworten
    • Sehr gerne, liebe Andrea, das war eine sehr interessante Anregung, was du da über Rituale gesagt hast, die mich zum Nachdenken gebracht hat. Davon abgesehen, dass es sehr viel Spaß gemacht hat, an deiner spannenden Elbwanderung teilhaben zu dürfen!
      Sehr liebe Grüße
      Regina

      Antworten

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