Mein Sternenbaum

von Bettina Sorge

Der Sternenbaum
Der Holunderbaum als Sternenbaum. Foto: Bettina Sorge

In meinem Beruf als Trauerrednerin gestalte und begleite ich jedes Jahr zwischen 150 und 200 Trauerfeiern, Beerdigungen und Urnenbeisetzungen. So viele Geschichten, so viele Schicksale – und manche davon gehen mir sehr nahe, wie das der jungen Frau, die dieses Jahr in den Bergen an Unterkühlung starb. Auch ich liebe es, in den Bergen unterwegs zu sein und fühle mich ihr ein Stückchen verwandt. So sind es in jedem Jahr einige, die ich in Gedanken noch lange mit mir trage – und das ist auch in Ordnung so.

Um diese und andere Lebensgeschichten auch immer wieder ein Stück weit loszulassen, habe ich schon vor vielen Jahren für mich ein Ritual entwickelt, das ich immer dann durchführe, wenn die Tage wieder kürzer werden.

Die Totengedenktage im Herbst

Kerze
„Ein Licht am Grab,
das sagt: ich hab an Dich gedacht“ Foto: Bettina Sorge

Der Herbst ist meine Lieblingsjahreszeit. Nie sind die Himmel höher und die Tage klarer, Wanderlust zupft an den Füßen und am Herzen. Nach der Tag- und Nachtgleiche im September werden die Tage kürzer als die Nächte, es ist Zeit, sich Dinge für die langen Abende vorzunehmen. Besonders deutlich spürbar wird die dunkle Zeit ab Ende Oktober.
Um diese Zeit im Jahreslauf ranken sich viele Traditionen, die mit unseren Verstorbenen zu tun haben. In der keltischen Tradition hieß es, dass jetzt die Schleier zwischen den Welten besonders dünn sind. In der katholischen Kirche wird Allerheiligen und Allerseelen gefeiert, viele richten in diesen Tagen die Gräber ihrer Verstorbenen schön her und wenn man in der Dämmerung über den Friedhof geht, dann leuchten rote Lichter.

In Mexiko wird der Día de Muertos, der Tag der Toten, gefeiert. Es ist ein fröhliches, buntes Fest, das über mehrere Tage geht. Es gibt Verkleidungen und Paraden, es wird gesungen und getanzt, und man bringt den geliebten verstorbenen Familienmitgliedern Opfergaben und lädt sie ein zu einem gemeinsamen Fest. Daran hat mich dieses Corona-Halloween 2021 erinnert: Es war ein ganz lauer Abend, Leute saßen in ihren Vorgärten um Lagerfeuer und die Kinder riefen einem „Happy Halloween“ nach.

Mein Sternen-Ritual

Etwa Mitte Oktober beginne ich damit, Sterne auszuschneiden, bzw. in den letzten Jahren stanze ich sie aus, das geht schneller. Dann schaue ich meine ganzen Unterlagen des Jahres noch einmal durch und schreibe auf jeden Stern Vornamen und Alter des Menschen, für den ich die Abschiedsfeier gestaltet habe. Und natürlich sind in manchem Jahr auch Sterne für verstorbene Familienmitglieder und FreundInnen von mir selbst dabei.

An einem weiteren Abend werden die ganzen Sterne auf einen Faden gezogen und zu einer langen Kette verbunden. An Allerseelen, also am 2. November, hänge ich diese Sternenkette an meinen Holunderbaum im Garten.

Der Holunderbaum

Warum gerade der Holunder? Einmal aus praktischen Gründen, denn so viele Bäume haben wir nicht im Garten. Der Apfelbaum würde nicht passen, die Magnolie auch nicht und schon gar nicht die große Weißtanne. Also bleibt es beim Holunder.

Da ich Märchen und Mythen mag, habe ich auch eine besondere Beziehung zu unserem Hollerbusch, wie er ja in Bayern und Österreich oft genannt wird, und den ich vor Jahren selber gepflanzt habe. Nicht nur, dass er mit seinen Blüten und Beeren Köstliches für die Küche und die Hausapotheke liefert, er gilt auch als segensreicher Strauch, als verbunden mit Frau Holle oder wie sie hier im Süden auch genannt wird, Frau Percht. Darüber zu schreiben, wäre jetzt ein eigener Artikel – für hier soll es genügen, dass Frau Holle auch das Tor zur Anderswelt hütet. Das wird im Märchen deutlich und auch in den Geschichen, die sich um den Frau-Holle-Teich im Hohen Meißner ranken.

Nun hängen die Sterne also im Holunder, am Anfang flattern sie noch lustig im Wind, die Herbst-Sonne bringt sie zum Strahlen – und dann im Lauf der Zeit wird die Schrift auf den Sternen unleserlicher, Regen und Schnee weichen sie auf, Stürme schütteln sie durch, der Frost lässt sie erstarren.

Loslassen

Mein zweiter wichtiger Termin, den ich mir als Endpunkt dieses Rituals ausgewählt habe, ist der 2. Februar – Lichtmess. Nun sind die Tage schon wieder heller – „an Lichtmess eine ganze Stunde“, wie meine Oma gesagt hätte.
An diesem Tag nehme ich die Sterne ab, mache am Abend ein kleines Feuer im Garten und verbrenne sie. Wenn der Wind hineinfährt, werden kleine Feuerfunken hinauf in den Himmel geschickt.

Dazu singe ich das Lied „Hold me, never let me go“. Auf der Website von StimmVolk.ch kann man den Text lesen und das Lied auch gleich hören.

Nun sind all die Verstorbenen eines Jahreskreises rituell verabschiedet – es ist wieder Raum und Kraft für neue Begleitungen.

Bettina Sorge, Trauerrednerin

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